Wann ist Trauer eine Krankheit? Die neue Diagnose Anhaltende Trauerstörung

Trauer ist nicht gleich Krankheit. Dieser Artikel erklärt, wann aus gesunder Trauer eine behandlungsbedürftige Störung wird – und wie die neue Diagnose hilft.
Birgit Wagner - Verhaltenstherapie Berlin - Anhaltende Trauerstoerung

Der Tod eines geliebten Menschen gehört zu den schmerzlichsten Erfahrungen im Leben. Trauer ist dabei eine normale und gesunde Reaktion. Ein Prozess, der dabei hilft, mit dem Verlust umzugehen und das Leben ohne die verstorbene Person neu zu gestalten. Doch was geschieht, wenn die Trauer nicht abebbt? Wenn sie das Leben dauerhaft bestimmt? Wann wird aus einem natürlichen Trauerprozess eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung? Diese Frage rückt zunehmend in den Fokus der psychischen Gesundheitsversorgung – nicht zuletzt durch die Einführung der Diagnose „Anhaltende Trauerstörung“ in die internationalen Klassifikationssysteme ICD-11 und DSM-5-TR.

Ab wann ist Trauer eine Krankheit?

Trauer ist ein normaler Prozess, der an sich einen natürlichen Verlauf und zum teil des menschlichen Lebens dazu gehört. In der ICD-11 kann die Diagnose einer Anhaltenden Trauerstörung gestellt werden, wenn:

  • eine intensive Sehnsucht nach der verstorbenen Person besteht,
  • ein intensiver Trennungsschmerz vorhanden ist
  • starke emotionale Schmerzen auftreten (z. B. Schuld, Wut, Leere),
  • wenn die Symptome mindestens sechs Monate andauern,
  • soziale, berufliche oder familiäre Funktionen erheblich eingeschränkt sind.

Im DSM-5-TR ist das Zeitkriterium mit mindestens zwölf Monaten noch strenger gefasst.

Vorteile der Diagnose

  1. Frühzeitige Erkennung und gezielte Behandlung:
    Die neue Diagnose ermöglicht es, Personen mit einem besonders schweren Trauerverlauf frühzeitig zu identifizieren und psychotherapeutisch zu begleiten. Studien zeigen, dass evidenzbasierte Therapieverfahren oder internetbasierte Schreibinterventionen die Symptomatik deutlich lindern können.
  2. Verbesserte Diagnostik
  3. Bessere Versorgungsstruktur:
    Die Einordnung als eigenständige psychische Störung erleichtert den Zugang zu professionellen Hilfsangeboten, etwa im Rahmen der psychotherapeutischen Regelversorgung oder durch spezialisierte Trauerangebote.

Risiken und kritische Stimmen

  1. Pathologisierung menschlicher Emotionen:
    Ein zentrales Argument gegen die Diagnose ist die Sorge, normale Trauer zu pathologisieren. Schließlich ist Traurigkeit kein Symptom, sondern ein Teil des menschlichen Lebens.
  2. Kulturelle Unterschiede:
    Trauerverläufe sind stark kulturell geprägt. Was in einem Land als „übermäßige“ Trauer gilt, kann in einem anderen als normal angesehen werden. Die ICD-11 betont daher, dass soziale und religiöse Normen bei der Diagnose berücksichtigt werden müssen. Dennoch ist dies im klinischen Alltag oft schwer umzusetzen.

Fazit

Die Aufnahme der Anhaltenden Trauerstörung in die ICD-11 ist ein wichtiger Schritt zur differenzierten Betrachtung von Trauerprozessen. Sie schafft Raum für Verständnis und therapeutische Hilfe. Insbesondere für jene, die in ihrer Trauer „steckenbleiben“. Gleichzeitig erfordert diese Diagnose ein hohes Maß an Sensibilität, um den schmalen Grat zwischen Unterstützung und Pathologisierung nicht zu überschreiten. Trauer ist an sich keine Krankheit, aber dennoch kann sie krank machen. Entscheidend ist, dass professionelle Hilfe dann angeboten wird, wenn Menschen in ihrem Verlust nicht mehr weiterkommen.

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