Der Tod eines Geschwisterkindes ist ein tiefgreifendes Ereignis, das weit über den Moment des Verlustes hinausreicht. Obwohl jährlich tausende Kinder und Jugendliche in Deutschland sterben, rückt eine besonders betroffene Gruppe kaum in das öffentliche oder therapeutische Blickfeld: die trauernden Geschwister. In der wissenschaftlichen Literatur werden sie häufig als die „vergessenen Trauernden“ bezeichnet – zu Recht, wie aktuelle Studien zeigen.
Die Einzigartigkeit der Geschwisterbindung
Geschwisterbeziehungen sind oft die längsten und stabilsten zwischenmenschlichen Bindungen im Leben. Sie prägen die emotionale Entwicklung, Identitätsbildung und soziale Kompetenz von Kindern und Jugendlichen maßgeblich. Der Tod eines Bruders oder einer Schwester, insbesondere in der Kindheit oder Jugend, bricht diese Verbindung abrupt ab und hinterlässt nicht nur eine emotionale Leerstelle, sondern wirkt sich auch auf die gesamte familiäre Struktur aus.
Psychische Folgen und langfristige Belastungen
Trauernde Geschwister zeigen ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Die psychischen Belastungen beginnen häufig bereits vor dem eigentlichen Todesfall, etwa im Kontext schwerer Erkrankungen des Bruders oder der Schwester. Besonders schwerwiegend sind Todesumstände wie Suizid oder Gewaltverbrechen für die hinterbliebenen Geschwister. Studien aus Skandinavien belegen, dass auch Jahre nach dem Verlust mehr als die Hälfte der Geschwister ihre Trauer nicht verarbeitet haben. Der Verlust eines Geschwisterkindes erhöht nachweislich das Risiko für somatische Erkrankungen und sogar die Mortalität im Erwachsenenalter.
Veränderte Familiendynamik nach dem Tod eines Geschwisters
Nach dem Tod eines Geschwisters werden häufig vor allem die Eltern in ihrer Trauer vom sozialen Umfeld wahrgenommen und unterstützt. Geschwister erleben häufig eine sekundäre Rolle, in der ihre eigenen Bedürfnisse oft nicht angemessen wahrgenommen werden. Die Eltern, welche oft selbst stark belastet sind, können oft keine emotionale Stütze bieten, was zu einem Gefühl der Isolation in ihrer Trauer bei den verbleibenden Kindern führt. Viele Geschwister berichten von dem Eindruck, ihre Trauer müsse zurückstehen. Die häufig fehlende Kommunikation innerhalb der Familie über den Verlust verschärft dieses Gefühl zusätzlich.
Suizid des Geschwisters: Schuld, Stigma und Sprachlosigkeit
Besonders schwerwiegend ist der Verlust durch Suizid. Neben Schock und Trauer kämpfen die Hinterbliebenen mit Schuldgefühlen und Stigmatisierung. Geschwister neigen dazu, sich für den Tod verantwortlich zu fühlen, etwa weil sie denken, sie hätten Warnsignale übersehen. Studien zeigen zudem, dass Suizidangehörige häufiger mit sozialer Ablehnung oder Schweigen konfrontiert sind. Innerhalb der Familie wird über den Suizid oft nicht gesprochen – aus Scham, Angst oder dem Wunsch, andere zu schützen. Diese Kommunikationsbarrieren können die Entwicklung einer anhaltenden Trauerstörung fördern.
Therapeutische Implikationen und Handlungsbedarf
Die Forschung macht deutlich: Es besteht ein dringender Bedarf an Interventionsangeboten, die sich spezifisch an trauernde Geschwister richten. Neben der Förderung einer offenen Kommunikation innerhalb der Familie und der Entwicklung gemeinsamer Rituale sollten psychosoziale Maßnahmen insbesondere auch die Stärkung des Selbstwertgefühls, den Abbau von Schuldgefühlen und die soziale Reintegration der Geschwister fokussieren. Schulen, Nachbarschaften und Freundeskreise spielen dabei eine wichtige unterstützende Rolle.
Fazit
Trauernde Geschwister tragen eine oft unsichtbare Last. Sie brauchen Räume, in denen ihre Trauer ernst genommen wird, auch unabhängig von der Trauer der Eltern. Die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig: Wird diese Gruppe nicht gezielt unterstützt, drohen langfristige psychische, soziale und gesundheitliche Folgen. Es ist wichtig, trauernde Geschwister nicht länger zu übersehen, sondern ihnen Gehör, Halt und Hilfe zu geben, sowie in der Familie, im therapeutischen Kontext und in der Gesellschaft.
Literaturempfehlung:
Wagner, B. (2015). Trauernde Geschwister–die vergessenen Trauernden. Psychotherapeutenjournal, 4(15), 352-358.